Prof. Eberhard Brügel,
Eröffnungsrede, 2008
Ausstellung von Herta Seibt de Zinser
in der Reihe „Kunst in der Klinik“
Einem Gedicht dürfe man nicht anmerken, wie viel Schweiß bei dessen Zustandekommen vergossen worden ist, äußerte sich einmal Robert Gernhardt. Mit dem Eindruck von Leichtigkeit, ja von filigraner Zartheit und teilweise schwebenden Charakter erfüllen die Plastiken von Herta Seibt de Zinser diesen Anspruch. Zu Recht vergleicht man diese immer wieder mit Zeichnungen im Raum, die wie von leichter Hand hingeschrieben erscheinen. Einen wesentlichen Teil zu dieser Wirkung trägt das Material bei, dessen sich Herta Seibt de Zinser bedient. Es sind ausgesprochen dünne Eisenrohre mit einem Durchmesser von 21 mm, die im Handel als Wasserrohre bezeichnet werden. Die Masse des Volumens ist also von vornherein auf ein Minimum reduziert, so dass der Eindruck von Schwere schon allein dadurch gemildert wird.
Doch jedermann weiß aus Erfahrung, dass selbst relativ dünne Rohre ein nicht unerhebliches Gewicht besitzen vor allem, wenn diese jene enorme Länge wie in den Plastiken von Herta Seibt de Zinser aufweisen. Werfen wir also ein Blick in das Atelier der Künstlerin im Freiburger E-Werk. Die Rohrlänge ist kürzer, als wir sie hier bei den aufgestellten Plastiken vorfinden, so etwa zwischen einem halben und zwei Metern. Herta Seibt de Zinser verbindet also einzelne Teilstücke, wobei sie sich eines Stecksystems bedient, indem sie jeweils am Ende des Rohres einen Metallstift anbringt, der zwei Teilstücke miteinander verbindet. Diese Stifte entsprechen in ihrem Durchmesser exakt dem Durchmesser des Hohlraumes. Die Teilstücke passen demnach so präzis zusammen, dass man die Verbindungsstellen aus der Ferne überhaupt nicht und aus der Nähe nur bei genauer Beobachtung entdeckt.
Wie formt nun Herta Seibt de Zinser das Rohr, das sie in den Schraubstock gespannt hat? In der einen Hand bringt sie mit dem Schweißbrenner das Rohr zum Glühen, mit der anderen Hand biegt und drückt sie das Rohr ohne jedes weiteres Hilfsmittel und Werkzeug in die gewünschte Form, über die sie sich zuvor eine klare Vorstellung gebildet hat. Es ist also im direkten Wortsinn reines Handwerk. Das ist nicht nur ein Kraftakt, sondern erfordert in weit höherem Maß eine enorme Leistung an Koordination. Das heißt, gleichzeitig punktgenau den Brenner zu halten, den günstigsten Hitzgrad des glühenden Metalls zu erkennen und aufrecht zu erhalten, das Rohr nicht nur einfach zu biegen oder zu knicken, sondern in eine spannungsvolle Form zu bringen, nicht zuletzt auch unter dem Aspekt, dass jedes Teilstück im Zusammenhang mit der übergeordneten Gesamtidee gesehen werden muss. Denn Herta Seibt de Zinser entwickelt die Form nicht so zusagen völlig frei am Schraubstock, sondern aus einem intensiven Studium der Natur. Darauf verweisen die spanischen Titel ihrer Plastiken Frutta, Flor, Hoja und Semilla: Frucht, Blüte, Blatt und Samen.
Herta Seibt de Zinser, die 1955 in Lima/Peru geboren ist, hat an der Facultad de Arte der Pontificia Universidad Católica Kunst mit dem Schwerpunkt Bildhauerei studiert. Auf die klassische Ausbildung, die sie dort erfahren hatte, schaut sie voller Dank zurück, denn ihr wurden die Augen geöffnet, Natur unter künstlerischem Aspekt nicht nur zu betrachten, sondern auch zu analysieren. Und ästhetische Analyse von Naturobjekten steht am Beginn jeder plastischen Arbeit. Das mag vielleicht erstaunen, denn die Titel widersprechen unserer Seherfahrung. Was hat denn z. B. die Plastik, die sich über den Rasen neben dem Weg zum Hauptportal erstreckt, mit einer Frucht zu tun? Nein, an einer abbildhaften Widergabe von Natur ist es Herta Seibt de Zinser nicht gelegen, vielmehr bezeichnen die Titel jeweils einen Ausgangspunkt.
In dem genannten Beispiel sind es die Schoten von Erbsen oder Bohnen. In zwei Hälften aufgeklappt, bilden sie gegenläufige Bögen, wie sie die betreffende Plastik jeweils am unteren und oberen Ende als Anfang und Abschluss bilden. Zwischen diesen markanten End- und Schlusspunkten entfaltet der Verlauf des Rohres ein geradezu dramatisches Geschehen an Bewegungen, formt sich zu großen Bögen, ändert abrupt und kontrastreich die Richtungen, schwebt in sanften Wellen hoch über dem Rasen oder fließt wie ein Bach herab, steigt gleich Luftblasen empor, drängt nach vorne, hält gelegentlich inne, schafft in Schlaufen kontrapunktische Pausen, entfaltet einen Rhythmus gleichermaßen voller Harmonie und Dynamik. Wo ist jedoch hier ein Bezug zur Frucht zu entdecken? Herta Seibt de Zinser hat sich mit den Innenseiten der Schoten befasst. Deren Randzone verläuft in Kurven und Wellen, die sich aus der Außenform der Schoten und der Innenform der Mulden ergeben, in denen die Erbsen bzw. Bohnen liegen. Es verwundert kaum, dass eine solche Naturform eine Bildhauerin anspricht, zudem die erwähnten Formen ausgesprochen plastische Eigenschaften aufweisen.
Die Idee für eine andere Plastik wurde von einer halbierten Tomate ausgelöst. Der Strunk mit seinem bizarren Umriss, Kammernwände und Samen bilden unterschiedliche Formen, die Herta Seibt de Zinser in einer trotz aller Transparenz eher geschlossen erscheinenden runden Form unterbrachte. Im Gegensatz dazu streben die schlanken und eher spitzen Formen der als Samen bezeichneten Arbeiten nach außen in den Umraum. Das verwundert insofern nicht, als sich die Künstlerin hierbei an Ahornsamen orientiert hatte, deren aerodynamisches Prinzip beim Herunterfallen eine Rotation bewirkt. Das Prinzip der Auffächerung dominiert dagegen bei dem Thema der Blätter, die spiralförmig oder paarweise den Zweigen entwachsen, und ebenso bei den Blüten, deren Entfaltung – formal gesehen – ein Sich-Öffnen zum Raum bedeutet.
Auch wenn sich die Idee für eine Plastik in der Auseinandersetzung mit Naturobjekten und in der freien künstlerischen Umsetzung inhaltlicher und formaler Überlegungen, Gedanken und Entscheidungen bereits in der Anfangsphase bereits weitgehend herauskristallisiert und verdichtet hat, so spielt der Prozess des Machens eine nicht unwesentliche Rolle. Denn das nicht beliebig formbare Metall setzt einerseits Grenzen, lässt jedoch auch andererseits spezifische ästhetische Qualitäten zur Geltung und Wirkung kommen. So entsteht ein dialogischer Prozess zwischen den Vorstellungen der Künstlerin und den Eigenschaften des Materials. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Da Herta Seibt de Zinser die Stahlrohre nur biegt, also nicht zusammenschweißt, weisen selbst starke Knicke keine extremen Spitzen auf. So bleibt der Eindruck einer fließenden Bewegung der verwendeten Wasserrohre selbst bei winkligen Formen gewahrt.
Angesichts des minimalen Massenvolumens der Rohre habe ich anfangs den Begriff der Zeichnung im Raum erwähnt. Es ist, genauer formuliert, die Zeichnung einer Linie im Raum. Reiz und Lebendigkeit bezieht diese Linie, da sie keine Taille, d. h. ein An- und Abschwellen des Striches aufweist, allein vom Verlauf, den ich an einem Beispiel bereits zu beschreiben versucht habe. Zusätzliche Spannung entsteht dadurch, dass alle Formen, seien es Bögen, Wellen oder Knicke, sich zwar gelegentlich geometrischen Formen annähern, aber mit solchen in keinem einzigen Fall zur Deckung gebracht werden können. Denn geometrische Formen zeichnen sich durch Klarheit und Eindeutigkeit aus, lassen aber jede formale Spannung vermissen. Es sind gerade die unmerklichen Abflachungen oder Knicke in den Bögen, die relativ kurzen geraden Elemente dort, wo die Rohre mit Stiften miteinander verbunden sind, und die geringfügigen Abweichungen der einzelnen Bögen innerhalb einer Wellenlinie, die, kaum oder überhaupt nicht wahrgenommen, die Spannung erhöhen. Richten die Betrachter ihr Augenmerk nicht nur auf das Kunstwerk selbst, sondern beziehen sie den Grund, d. h. den Hintergrund mit ein, ergeben sich vielfältige Korrespondenzen. Formale Analogien bieten sich in Bäumen und Sträuchern an. Für die Plastik am Aufgang zum Hauptportal ergeben sich solche Analogien aber auch Kontraste zum entfernten Horizont. Klare Architektur steht gegen biomorph erscheinende Zeichnung. Die zahlreichen Antennen und Stangen am und auf dem Gebäude der Klinik entsprechen den Rohren der Plastiken, setzen sich von ihnen aber mit ihrer Geometrie und metallenem Glanz in entschiedener Weise ab.
Zeichnung im Raum ist nur ein Aspekt, Zeichnung und Raum ein anderer. Am radikalsten kommt diese Wechselbeziehung in der zuletzt erwähnten Plastik vor dem Hauptportal zur Geltung. Denn steht man am unteren Ende des Aufgangs, dann wird die gesamte Plastik von dem ersten, nach rechts oben geneigten Bogen eingerahmt, der zusammen mit dem hinteren, nach links geneigten Bogen, wie bereits erwähnt, den inhaltlichen Ausgangspunkt der aufgeklappten Schote erkennen lässt. Oder anders formuliert: Die Schoten umfassen und begrenzen den inneren Teil wie in der Natur so auch in der Plastik von Herta Seibt de Zinser.
Geht man auf das Hauptportal zu, dann verändert sich die Plastik derart, dass man meint, einem völlig anderen Werk gegenüber zu stehen. Die vom unteren Standpunkt aus vielfältigen Überschneidungen von vermeintlich mehreren Linien, die zudem einen kompakten Eindruck vermitteln, werden nun von einer sich weit über die Rasenfläche erstreckenden Linie abgelöst, die in ihrem suggestiven Bewegungseindruck den Weg zum Hauptportal begleitet. Mit Ausnahme der Plastik, die direkt vor eine Hauswand gestellt ist, erlebt man diesen grundsätzlichen Wandel bei allen hier aufgestellten Plastiken. Oft genügen nur wenige Schritte, um einen völlig anderen Eindruck zu gewinnen.
Die Linien, d. h. die Rohre mit ihrem geringen Massenvolumen haben vor allem auch die Funktion, den Eindruck von Dreidimensionalität zu vermitteln, eben das, was Plastik ausmacht. Sie leiten die Augen der Betrachter nach allen Seiten, nach vorne, nach hinten in und durch den Raum. Sie durchmessen und dynamisieren diesen und machen ihn auf diese Weise erlebnishaft spürbar. Zu der Bewegung durch den Raum korrespondieren die Formen einzelner Volumen, die durch die Rohre begrenzt und somit definiert werden. Man wird sich dieser Teilräume noch klarer bewusst, wenn man in der Vorstellung einige Stoffplanen über diese Rohre wie über Zeltstangen legt. Diese Räume entziehen sich jedoch einer hermetisch abgeschlossenen Eindeutigkeit, denn an keiner Stelle stößt ein Rohr auf ein anderes. Immer bleiben Formen z. B. von Schleifen und Kreisen, die unser Auge in ihrer Ganzheit wahrnimmt, an einigen Stellen mehr oder weniger offen und lassen den umgrenzten Innenraum in andere Teilräume der Plastik oder in den Umraum überfließen. Diese einzelnen Räume sind in verschiedene Richtungen gelagert, streben nach oben, greifen wie mit einer Geste in den umgebenden Raum, lagern auf dem Boden oder schweben kapp darüber. Zugleich gewährleistet die generelle Transparenz der Plastiken eine simultane Erfassung der jeweiligen Raumsituationen und -konstellationen.
Herta Seibt de Zinser hat die Standorte der Plastiken sorgfältig und gewissenhaft ausgewählt. Der lange Zeitraum von insgesamt 15 Tagen, den sie aufgewandt hat, ist noch anders begründet. Die anfangs dargelegte Vorgehensweise, die einzelnen Teile durch ein Stecksystem miteinander zu verbinden, ermöglicht es der Künstlerin, die Präsentation der Plastiken auf unterschiedliche Aufstellungsorte jeweils ganz konkret zu beziehen. Die Reihenfolge der einzelnen Rohrelemente hält sie strikt ein. Da aber die Verbindungen nicht starr sind, und die Rohrelemente sich in alle Richtungen drehen lassen, kann ein und dieselbe Plastik einmal kompakt ausfallen ein andermal offener oder gar in die Länge gezogen sein. So ist der lange Zeitraum, den Herta Seibt de Zinser für die Konzeption und Realisation der Präsentation benötigte, vor allem in dem Bemühen begründet, die Plastiken auf die jeweilige Raumsituation in dem Parkgelände zu beziehen. Dabei greift sie gelegentlich die aufstrebende Tendenz einer Baumgruppe in ihrer Plastik auf, ein andermal die sanfte Wölbung eines Hügels, dem sich die Plastik annähert. So hat sich die Bildhauerin Seibt de Zinser, die räumlich denkt und gestaltet, mit dem Ort vertraut gemacht und einen Dialog geschaffen zwischen Kunst und Natur, zwischen KunstKunst und dem Ort des Herz-Zentrums in Bad Krozingen. Es liegt jetzt an Ihnen, den Betrachtern, nicht nur mit den einzelnen Kunstwerken, sondern auch mit der Gesamtpräsentation, die von Herta Seibt de Zinser ebenfalls in einer künstlerischen Aktion gestaltet wurde, in einen persönlichen Dialog zu treten.