Regine Kemmerich-Lortzing
April 2017
Observaciones
Herta Seibt de Zinser steht seit Jahren fast jeden Morgen sehr früh auf, um ihren Naturstudien nachzugehen. Sie untersucht mit der Lupe etwas, das sich ihr in ihrem Umfeld, in ihrem Garten anbietet: sei es ein Blatt oder eine Blüte, sei es ein Zweig oder eine Frucht. An diesem Naturprodukt studiert sie eingehend die sich ihr bietende Vielfalt an Formen und Linien und hält ihre Untersuchungen möglichst exakt mit einem schlichten Bleistift auf einem Bogen Papier fest. Diese Studien waren zu keinem Zeitpunkt für die Präsentation in der Öffentlichkeit gedacht, sie dienten ihr gleichsam in meditativer Weise als Konzentration auf das Wesentliche, und das ist die Natur.
Natur unterscheidet zu keinem Zeitpunkt zwischen figurativ und abstrakt. Formen sind Formen und Linien sind Linien. Sie können allerdings stark variieren, je nach Blickwinkel oder Standpunkt des Künstlers bzw. des Betrachters, und zwischen allen können sich dabei erstaunlich räumliche Bezüge entwickeln. Während ihrer intensiven Beschäftigung mit den vorhandenen Linien und Formen machte sie die Entdeckung, dass eine so per Lupe flächig aufs Papier gebrachte natürliche Formenvielfalt von Pflanzen sich zusehends in Figuration verwandeln kann. Wahrnehmung verändert sich, weckt Assoziation, wird zur Interpretation. Die Übergänge sind fließend und steuern die Sichtweise. Eine Entdeckung, die sie jedes Mal heiter und dankbar stimmt.
Wie sehr für Herta Seibt de Zinser Kunst und Natur zusammengehören, zeigt sich jedoch besonders in ihren bildhauerischen Arbeiten. Sie ist bekannt für ihre Rohrbilder, großrahmige Gebilde, für die sie Rohre unterschiedlicher Stärke sehr aufwändig in einem schweißtechnischen Verfahren erhitzt, verbiegt, verformt und zusammenfügt, um sie wie kalligraphisch großformatige Zeichen in ein dafür ausgesuchtes Umfeld zu platzieren. Ihre Arbeiten behaupten sich in der alpinen Felslandschaft, sie nehmen Kontakt auf zu Bäumen und Büschen in Parks, sie können sich einem sehr urbanen Umfeld anpassen (A, oder sich auch mit majestätischer Ruhe in einer geschlossenen Architektur ihren Raum erobern. Markantestes Beispiel für Letzteres zeigt sich in ihrer Einzelausstellung im E-Werk Freiburg.
Wenn Herta Seibt de Zinser mit Erhitzen und Verbiegen von Rohren beginnt, kennt sie noch nicht das Endresultat ihrer Arbeit, hat sich jedoch intensiv mit dem räumlichen Umfeld auseinandergesetzt, in dem sich die Skulptur zu behaupten hat, entdeckt viele natürliche Linien und Formen, die sie in sich aufnimmt. Im Arbeitsprozess selbst lässt sie sich davon leiten, wie das Metall der Rohre ,mit geht’, wie es sich biegen lässt, welche Wege die Verformungen als weiteren Verlauf anbieten. Es ist eine äußerst abstrakte Vorgehensweise, bei der sie zudem bewusst diverse Gelenkstellen einbaut, denn auch eine vermeintlich starre Skulptur muss veränderbar sein, ist dem allumfassenden Gesetz des Lebens unterworfen: dem steten Wandel. In ihren abstrakt geschaffenen Skulpturen kristallisieren sich dabei für sie immer wieder die Linien und Formen der sie umgebenden Natur heraus.
Unter Natur versteht Herta Seibt de Zinser nicht nur die Pflanzenwelt in ihrer ganzen Aktivität, die wir jedes Mal besonders intensiv im Frühling erleben, wenn alles drängt und schiebt. Unter Natur subsumiert sie auch die Menschheit, die sich selbst als Teil der Natur begreifen sollte, ist der Mensch doch bei all seiner Vernunftbegabung letztlich denselben Naturgesetzen von Werden und Wachsen, Sich-Raum-Erobern und Vergehen unterworfen. Eine Erkenntnis, die förmlich danach strebt, all diese verschiedenen Ausprägungen von Natur in und durch die Kunst zur Einheit zu verschmelzen.
Wie sich Menschen in kreativer Weise diese Skulpturen buchstäblich erobern – seien es Tänzerinnen, Musiker, Jugendliche oder Senioren – kann man in etlichen Videos erleben. Herausragendes Beispiel dafür war das Projekt TRONCO (Baumstamm) – eine begehbare Skulptur, die im E-Werk 2015 von ganz unterschiedlichen Gruppen bespielt wurde.
Für die Bildhauerin Herta Seibt de Zinser sind Natur und Kunst so verwoben, dass die Kunst nicht nur eine Brücke zur Natur darstellt, sondern auch zur Brücke zwischen den Menschen wird. Ihre Skulpturen fordern andere zum kreativen Tun auf, werden dadurch künstlerisch verwandelt, wie es dem Gesetz des Lebens entspricht. Damit erfüllt sich für Herta Seibt de Zinser der Sinn des Lebens im Panta Rhei.