Regine Kemmerich-Lortzing
Herta Seibt de Zinser und Immanuel Kant
Badenweiler Juni, 2024
Was haben die Skulpturen der Bildhauerin Herta Seibt de Zinser in diesem Park mit dem berühmten Philosophen Immanuel Kant zu tun? Ich möchte Sie auf eine kleine Forschungsreise mitnehmen. Keine Sorge, ich werde Sie jetzt nicht mit der komplizierten Rhetorik von Kant quälen. Um Ihnen aber meine Überlegungen plausibel zu machen, muss ich Kants Theorie etwas erläutern – aber sehr plakativ knapp und mit meinen Worten, versprochen!
Überall wimmelt es jetzt von neuen Büchern, Podcasts und Vorträgen zum 300jährigen Kant-Jubiläum. Erst kürzlich erläuterte in der Freiburger Universität die Hamburger Professorin Birgit Recki, dass mit Kant die moderne Ästhetik begann. Dass Kant eine Theorie der Ästhetik, eine Theorie der Kunst entwickelt hatte, erstaunt vor allem deswegen, weil er sich für Kunst eigentlich gar nicht zu interessieren schien. Er konzentrierte sich dabei auch ausschließlich auf seine Fähigkeit, auf rigoroses Denken. Wer kennt nicht Kants berühmten Satz: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Sozusagen sein Fazit aus seinem Erstlingswerk „Kritik der reinen Vernunft“. Oder den anderen Satz: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Sozusagen sein Fazit aus dem Folgewerk „Kritik der praktischen Vernunft“.
Für Kant galt als einzige moralische Instanz die nach Regeln strebende Vernunft. Damit postulierte er eine Freiheit des Denkens, mit der er damals sogar die Theologie ins Wanken brachte, denn – lässt sich Gott ‚vernünftig‘ beweisen? Aber da gibt es auch das berühmte Zitat: „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Und damit wollen wir uns beschäftigen. Kant entdeckt beim Betrachten des nächtlichen Himmels, dass sich in seinem gedanklichen Konstrukt eine Lücke auftat: Wie lässt sich nur durch Denken – also ohne den religiösen Glauben an himmlische Vorsehung, göttlichen Trost etc. – dieses so angenehme Gefühl in der Anschauung eines nächtlichen Himmels mit der nach Regeln strebenden Vernunft zusammenführen? Da wir Menschen als natürliche Organismen ja von der Natur selbst mit dieser Fähigkeit zur Vernunft ausgestattet wurden, legt er in seiner „Kritik der Urteilskraft“ dar, dient logischerweise auch eine sinnlich wohltuende Anschauung des Erhabenen dem Fortschritt der Menschheitsgeschichte und damit dem Idealzustand, den wir anstreben.
Und wo begegnen sich die sinnlich-wohltuende Anschauung des Schönen in der Natur und die gedanklich ordnende Kraft von Verstand bzw. Vernunft? – In der Kunst! – Die Kunst ist der Ort, an dem sich die Verschränkung von Gefühl und Verstand ereignet. Das Anschauen schöner Dinge, das sinnliche Wahrnehmen ist völlig zweckfrei, folgt keiner Intention; es ist eine lustvolle Empfindung, ausgelöst durch schöne Formen. Dadurch wird prompt der Verstand herausgefordert, denn der sucht unentwegt nach Erklärungen, nach ordnenden Prinzipien. Der Mensch kann gar nicht anders! Der Verstand reagiert und beginnt zu arbeiten. Aus der gedanklichen Transformation dessen, was er erlebt, entsteht Kunst! Für den Kunst-Schaffenden existiert allerdings kein vorgegebenes Regelwerk. Jeder gibt sich eigene Normen. Darin offenbart sich die Freiheit der Kunst! Der Mensch, der die so entstandene Kunst betrachtet, ist in der ästhetischen Anschauung frei zu entscheiden, ob ihm das Gesehene gefällt oder nicht. Er fragt sich zwar, ob er das Gesehene ‚vernünftig’ einordnen kann. Wenn nicht, holt er sich Rat. Aber bei seiner Entscheidung an sich fällt er kein abwägendes Urteil im herkömmlichen Sinn. Er richtet sich nach seiner individuellen Vorliebe, seinem Geschmack. Und über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten…
Auf den ersten Blick entsprechen Hertas Skulpturen genau Kants Gedankengang. Herta liebt die Natur mit all ihren vielfältigen Ausprägungen, und das schon von Kindesbeinen an. Die unzähligen Formen fängt sie bei ihren Betrachtungen nahezu täglich in zeichnerischen Skizzen ein, sei es mit Bleistift, oder seit einiger Zeit nur noch in einer antiquierten, dafür sehr aufwändigen Technik mit dem Silberstift, für den sie das Papier zuvor grundieren muss. Eine unendliche Fülle solcher Zeichnungen dokumentieren das. Ganz im Kant’schen Sinne erlebt sie also in sinnlicher Anschauung das Schöne und Erhabene in der Natur. Ihr Verstand beginnt zu transformieren, zu abstrahieren, um all dem in großformatigen Skulpturen eine neue Gestalt zu verleihen. So weit, so gut.
Aber gerade in ihren Skulpturen zeigt sich auch der Unterschied zu Kants Theorie der Ästhetik. Ihre Skulpturen sehen zwar alle leicht und luftig aus und fügen sich ästhetisch wie von selbst in die Natur. Aber sie sind nicht das Resultat einer gedanklichen Transformation am Schreibtisch oder beim Spaziergang. Für jede einzelne Skulptur benötigt Herta einen enormen Kraftaufwand. Sie erhitzt jedes einzelne Rohr mit dem Schweißbrenner, sie verbiegt das heiße Gestänge eigenhändig unter Einsatz von allerlei Handwerkszeug, wie es in einer Schmiede in Gebrauch ist. Das wiederholt sie mehrfach. Sie leistet körperliche Schwerstarbeit, besonders wenn sie große Skulpturen entwickelt. Und sie kann die Gestalt der Skulptur erst während des Arbeitsprozesses entwickeln, je nachdem wie das Material mitgeht, und das hängt wiederum von diversen Faktoren ab.
Wenn sie beginnt, weiß sie noch nicht, wie die Skulptur am Ende im Detail aussehen wird. Warum macht Herta Seibt de Zinser das? Warum bürdet sich eine Frau, die sich der Natur so intensiv verbunden fühlt, eine so anstrengende Arbeit auf? Warum bleibt sie nicht beim Zeichnen oder Malen, was weit weniger körperlichen Einsatz erfordert? Das hängt mit der Art ihrer Wahrnehmung zusammen. Künstlerisch veranlagte Wesen haben – ich möchte es einmal so ausdrücken – eine etwas besonders strukturierte Art der Wahrnehmung: sehr feinfühlig, sehr intensiv, sehr detailreich, sehr differenziert. Herta nimmt in der Natur nicht nur die schönen Formen wahr. Sie ist in Peru geboren und aufgewachsen, einem Kontinent der uralten indigenen Kulturen, die zwar verschwunden sind, aber im Bewusstsein präsent blieben.
Es wundert nicht, dass Hertas Antennen mit der Natur in einer Weise verbunden sind, die auch die enorme, ihr innenwohnende Kraft wahrnehmen. Sie spürt diese Naturkraft physisch in sich, die leise zum großartigen Blühen und Wachsen, andererseits auch heftig zum Zerstören führen kann. Eine Kraft, die langsam aber stetig ganze Pyramiden und Städte überwuchern kann, und sie uns später als archäologische Ausgrabungen bestaunen lässt. Eine treibende Kraft, die stärker ist als wir Menschen, und die uns zu Demut auffordert. Für Herta geht es nicht um kuscheliges Wohlgefühl in einer Schnittmenge von Gefühl und Verstand im Gehirn. Sie erlebt in der Begegnung mit der Natur zwar wunderbare Formen. Ihre ganze Arbeit erlebt sie als eine einzige „Hommage an die Natur“.
Schon in den Titeln ihrer Serien kommt ihr Anliegen zum Ausdruck: SEMILLA, HOJA, FLOR, FRUTO etc. Es sind Abstrahierungen all der Formen, denen Herta in der Natur begegnet. Aber sie nimmt auch die mächtige und Schweiß treibende Kraft wahr, denn Natur bahnt sich immer ihren Weg, sie lässt sich nicht unterdrücken. Auch künstlerische Kreativität ist eine treibende Kraft, die sich nicht bändigen lässt, obwohl Potentaten das immer wieder versuchen. Wie in der Natur konkretisiert sich Kreativität in der Kunst als ständiges Drängen, Wachsen und Verändern. Dass die Natur einem stetigem Wandel der Gestaltungsformen unterliegt, sehen wir in den vier Jahreszeiten vielleicht am deutlichsten. Dass auch Kreativität dasselbe gestalterische Veränderungspotential in sich birgt, spiegelt sich in Hertas Arbeiten.
Herta bewahrt ihre Skulpturen vor der Erstarrung, indem sie bewußt kleine Gelenkstellen einbaut und damit die Möglichkeit zum Gestaltwandel prognostiziert. Weil Herta die Kunst als eine ähnlich treibende Kraft in sich erlebt, wie die in der Natur, verengt sich ihr Blick auch nicht auf ihre eigene bildhauerische Arbeit. Alle Arten von Kreativität bleiben wie die Kräfte der Natur quasi unterirdisch miteinander verbunden. Nicht von ungefähr fordert Herta ihre Skulpturen zum Dialog mit anderen Künsten auf, sei es mit der Bewegungskunst, sei es mit der Musik oder mit der Schauspielkunst. Als Beispiele seien hier genannt: „Tronco“, ein mehrtägiges Ereignis im E-Werk 2015 und „Flor“, das ausdrucksstarke Kurz-Projekt im Kunstverein Kirchzarten 2023. Bei beiden Projekten verschränkten sich jeweils immer mehrere Kunstsparten ineinander.
Hier am Hang in diesem Kurgarten werden Sie feststellen, dass Hertas Skulpturen sich in diesem ganzen Grün nicht mit dominierender Präsenz in den Vordergrund spielen. Sie wollen gar nicht mit all diesen gewaltigen Baumriesen konkurrieren. Trotz ihrer eigenen Größe gehen sie so in ihrer Umgebung auf, dass man sie fast suchen muss. Die rostfarbenen Rohre winden sich wie organische Lianen aus der Erde, um dann in großen Kurven wieder darin zu verschwinden. Aber genau darin verkörpert sich die abstrahierte Kraft der Natur, die ans Licht drängt und sich zugleich unterirdisch ausbreitet. Und es offenbart sich noch eine Parallele zur Natur in Hertas Kreativität. Sie hat sich über den Park hinaus bis in das Gartengelände des Schlossberghotels ausgebreitet. Dort können Sie am Ende des Rundgangs vier weiteren Skulpturen begegnen.
Kommen wir zum Abschluss: Seit Kants Zeiten haben sich die Anforderungen an die Kunst sehr verändert: Kunst muss Stellung beziehen, Kunst muss politisch sein, Kunst muss weh tun, Kunst muss aufrütteln, Kunst muss dies und Kunst muss das! Entgegen des Kant’schen Postulats, Anschauung und Kunst seien gänzlich zweckfrei, bar jeder Intention, und sollten das auch bleiben, hat sich ein kapitalistischer Kunstmarkt etabliert mit Investitionssummen, die schwindlig machen. Und ganze Berufsstände sind mit Kunstvermittlung beschäftigt und reklamieren die Urteilskompetenz für sich. Nur eines veränderte sich bei dem Hype um zeitgenössische Kunst nicht, was jener Philosoph in weiser Voraussicht erahnt und in sein Gedankengebäude einbezogen hat: die Wirkung einer sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung. Und das kann – damals wie heute – jeder nur für sich beurteilen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen beim Gang durch dieses Parkgelände ein sinnlich nachhaltiges Erlebnis.
Regine Kemmerich-Lortzing