Herbert Maier,
Katalog “LÍNEAS” 2000

Eisenrohrzeichnungen
Zu den Arbeiten von Herta Seibt de Zinser


Die Skulpturen von Herta Seibt de Zinser sind hinsichtlich ihres formalen technischen Vokabulars einfach. Dieser Einfachheit gegenüber steht, was ihre Positionierung und Rezeption im Raum betrifft, eine komplexe Struktur.

Formal-technisch besteht jede einzelne Arbeit aus drei voneinander verschiedenen Teilen desselben Materials, nämlich aus Eisenrohr in einer Stärke von 21 Millimetern. Unter der Hitze einer autogenen Schweißflamme werden die Rohrgeraden für eine angedachte Skulptur derart gebogen, daß sich jedes der drei Teilstücke nach allen drei kartesischen Raumkoordinaten hin ausdehnt. Außerdem werden die beiden Abschlüsse jedes Teils so gearbeitet, daß sich die drei Komponenten beliebig zur Vollskulptur ineinander stecken lassen.

Die Positionierung der Skulptur in einem gegebenen Raum fordert komplexe Reflexionen. Denn während eine Skulptur im klassischen Sinne als eindeutiges und statisches Körpergebilde im Raum plaziert wird, eignet den Skulpturen von de Zinser ein temporäres Moment. Indem sie mehrteilig und variabel zusammengesetzt werden müssen, erhebt sich bei ihrer Positionierung jedes Mal von neuem nicht nur die Frage, wo eine Skulptur, auf die jeweilige Raumsituation bezogen, errichtet werden soll, sondern sie stellt sich auch in bezug auf die Kombinatorik ihrer drei Teile. Und weil diese viele Möglichkeiten zulässt, sind es „offene, aktive Skulpturen“, umso mehr als sie in Einzelfällen vom Rezipienten selbst „umgebaut“ werden können.

De Zinsers Skulpturen sind kommunikative Linien. Sie sind Zeichnung im Raum. Kommunikativ einerseits, weil der Betrachter, sofern es die Abmaße und das Gewicht der Arbeiten zulassen, selbst Hand an sie legen kann. Andererseits korrespondieren sie mit dem Raum, den sie verspannen, indem sie seine gegebenen räumlichen Situationen an die Linie und ihre beschreibenden Winkel binden.

Es scheint eine Neigung des Auges, Linien entlang zu gleiten. De Zinsers Skulpturen nutzen diese nachzeichnende Lust des Gesichtssinns, um den Betrachter im Zick-Zack Kurs auf Reisen durch den realen Raum zu schicken. Tempiwechsel entstehen zwischen den Zonen größerer Verwinkelung und solchen, die zu weiter Aspiration ausladen. Dabei bricht sich das an den feuergeschwärzten Rohren reflektierende Licht in einer reichen Tonwertskala, was die Tiefenwirkung der plastischen Raumzeichnung, aber auch ihre Entmaterialisierung hin zur materielosen Linie unterstützt. Im vorgezeichneten Richtungswechsel der Wahrnehmungsbewegung lotet der Rezipient die Raumkoordinaten in Abhängigkeit ihrer atmosphärischen Lichtverhältnisse aus. Die eigentliche Verortung der Skulptur indes vollzieht sich in ihren Leerezonen, d.h. zwischen den Schenkeln der Winkel, die sich einmal öffnen, ein anderes Mal einschließend gestalten, jedoch nie in einem rechten Winkel oder über ihn hinausstreben. Zwischen den Winkelschenkeln der Skulptur werden jeweils reale Raumstücke aus dem Raumganzen ausgeschnitten. Es entgeht dem aufmerksamen Auge nicht, daß diese Schnitte optisch auf dieselbe Ebene gehoben werden, die sich zwischen den Schenkeln jedes Winkels aufspannen ließe. Nun arbeitet de Zinser gerade nicht mit Flächenmaterialien. Die von den Rohrwinkeln aufgespannte Ebene ist eine imaginäre. Sie ist Leere und diese Leere wird durch ein Puzzlestück des real vorhandenen Raumes gefüllt. Indem diese Puzzlestücke jedoch optisch auf die Ebenen der Skulpturenzeichnung transponiert werden, erscheinen sie wie an diese „angedockt“. Betrachten wir die Skulptur im Ganzen und von jedem beliebigen Standpunkt aus, so sehen wir unzählige reale Raumsegmente in die Skulptur „hineinkippen“. Der Vorgang ist auch umgekehrt als eine Entlassung des Realraumes aus den Windungen der Skulptur lesbar. Jede Leserichtung vermittelt jedoch eine vollkommen in ihren Umraum verortete Skulptur, aus der heraus die architektonischen im Freien, die urbanen bzw. landschaftlich empirischen Gegebenheiten visuell neu gemischt werden. Räume, die unsere gewohnte Seh- und Sichtweise, allen physikalischen Erkenntnissen von einer Raumzeit zum Trotz, in ein statisches Korsett zwingen wollen, gewinnen durch die Eisenrohrzeichnungen von Herta Seibt de Zinser eine aktive, temporäre Präsenz.

Anders als den wuchtigen Stahlkraken Chillidas gelingt es de Zinser auf unspektakuläre und schlichte Weise, Leere und Raum zu binden, bzw. als aus der Skulptur selbst entlassen zu begreifen. Im Verzicht auf Volumen und in der Tendenz hin zu einer entmaterialisierten Skulptur muß ihr Norbert Kricke geradezu als ein Wahlverwandter erscheinen. Die Idee Krickes von einer Skulptur als kinetische Konstruktion findet in de Zinsers Konzept einer auch für den Rezipienten zusammensteckbaren, variablen Skulptur eine konsequente Fortsetzung und Neuerung. Das ist das Überzeugende an diesen Arbeiten.