Brigitte von Savigny,
Katalog “Transformaciones” 2006

in neue Gestalten verwandelte Wesen will ich besingen.
Ihr Götter seid gnädig meinem Beginnen, denn ihr habt
ja auch jene verwandelt, und leitet meinen Gesang
vom Urbeginn der Welt ununterbrochen fort
bis auf meine eigene Zeit.

Ovid Metamorphosen (2.-8. n. Chr.)

Transformaciones

Lineas, Semillas, Frutos, Flores und Hojas sind dezent plastische Verformungen, bei denen es um Verwandlungen und Korrespondenzen geht.
Als Serien sind sie keineswegs nur optisch zu erfassen. Herta Seibt de Zinsers Kunstanliegen hat zu einer überaus vielschichtigen, universellen Auffassung von Plastik geführt, in der das mit den Sinnen Wahrnehmbare ein Aspekt einer viel weitergehenden künstlerischen Absicht ist.

Dem Denken und Bewegen ist im plastischen Werk eine zentrale Bedeutung zugewiesen: die physische Materialität soll Kräfte-und Wärmeverhältnisse, menschliche Beziehungen und gesellschaftliche Strukturen, das Leben erfahrbar machen. Der primäre plastische Eingriff, das Zusammenstecken der unter heißer Flamme verformten Eisenrohre, bedeutet ja auch die Rekonstruktion einer verlorenen Ganzheit. Jede Arbeit entsteht in einem Prozess des Abtastens formaler und architektonischer Äquivalenzen.

Sie zeigt insgesamt fünf Werkphasen, worunter die Serie Lineas am Ende der 90er Jahre noch aus der stilistischen Nähe zu den rätselhaften Geoglyphen der Nasca-Kultur, den 1926 südlich von Lima entdeckten Linien-und Scharrzeichnungen, entstanden ist. Als plastisches Linienspiel unmittelbar in den flexiblen Raum geführt, ist Lineas Ausgangspunkt für die späteren Gruppenkompositionen, die für die Ausstellung in der Polyvalenten Halle des Freiburger E Werks entstehen und eine Zusammenfassung des Werkes sind, seit die Künstlerin von einem mehrjährigen Aufenthalt aus Peru 2004 zurückgekehrt ist. Die Lineamentik der einzelnen Serien ist höchst unterschiedlich und verlangen vom Betrachter ein differenziertes Erfassen.

Sind die Lineas eindeutig in Winkel und Geraden angelegt, öffnen sich die folgenden Serien in kurvigen weiten Spiralen. Inspirationsquelle der Semillas (Samen), Frutos (Früchte) ist die Taxis, die Veränderung durch äußere Reize.* Hier lotet die Künstlerin aufmerksam die Vielschichtigkeit und ununterbrochene Veränderbarkeit der Dinge aus, die Unabsehbarkeit ihrer Erscheinung. Es ist der sezierende Blick, dem es um Vertiefung und die Konzentration von Form, Sprache und Stille geht. Je nach Raumproportionierung, abhängig vom Standort und Blickwinkel, legt sich allmählich reflektierendes Licht über die ganze Komposition. Die Spannung, die sich dabei aufbaut, eröffnet der Raum-Installation Perspektiven und unterstreicht die komplexe Erweiterung der Arbeit zusätzlich, im Sinne der Freilegung von dynamischen Energien, im dialogischen Spiel von Variabilität und Balance der austarierten Linien, Winkel und Bögen, konturierten Flächen im Vor- und Dahinter.

Prägend sind die kalligrafisch gezogenen Diagonalen mit denen „Figuren“ förmlich an ihre Grenzen stoßen. Und gleichzeitig gibt es übergreifende Linien, die den Schwung der gekrümmten Stäbe virtuell über alle Begrenzungen hinausführen. Die Bewegungen kreuzen sich, Linienbündelungen sperren oder überschneiden sich. In manchen Zonen tastet das Auge ein Wirrwarr von Linien und Flächen. Es geht hin und her, wie hoch und runter, dass man es als ganzheitliche Erlebniswelt in nuce begreifen muß. Explosiv bewegte Formen, innere Kräfte setzen sich spontan in die Gesten tänzerischer Energie, die durch Licht und Raum gefasst und gesteigert wird. Umsomehr, als wir Rezipienten das kontrovers erscheinende Räumliche umlaufen und Blickstrecken, eingeschriebene Flächenfelder und gebogene Einsenlinien neu ordnen. 

Tanzperformance, hat die peruanische Künstlerin Mirella Carbone gezeigt, öffnet völlig neue Maßstäbe, wenn die choreografische Akrobatik, die Plastiken einmal als statische, ein andermal als metamorphotische Gebilde und Haltepunkte begreift. So vermag sie neue Ausdrucksbewegungen im dreidimensionalen Werk zu verwirklichen und dem Betrachter, der diese Rhythmen und gezeichneten Botschaften nachvollzieht, mitzuteilen. Oft gewinnt man den Eindruck, dass sie denen, die die Geduld zum Stillhalten verloren haben, die Erkenntnis zum eigenen Raumverhältnis offerieren möchte.

Herta Seibt de Zinsers Plastiken stoßen hier zu einem Grenzpunkt vor, an dem sie ein Eigenleben entwickeln. Sie erfindet Kombinationen , die nur bedingt intendiert sein können. Aber nicht der Zufall bewirkt diese Steigerung, sondern die Künstlerin, die ihre Ausdrucksmöglichkeit dahin geführt hat, dass sie in ihrem vollen Umfang ein Höchstmass an Offenheit realisiert. Sie bedenkt den beständigen Umraum energisch. Gleich einer Partitur wechselt sie tempo, staccato, allegro. Gelegentlich greift sie improvisatorisch ein, gibt der plastischen Zeichnung eine flüchtige Wende….Angeleitet von der chinesischen Philosophie, nach der sich der Mensch in die Harmonie der Welt einfügen soll (tao), drängt aus den plastischen Verwandlungen das Leben und breitet sich fließend auf dem Boden aus.

Der rauh gelassenen Oberflächenqualität des Metalls entspricht eine strenge Gestaltung. Wenn auch das reiche Grauspektrum, je nach Lichteinfall, von hell grafit bis nahezu anthrazitschwarz den neutralen Charakter der Metalllinie unterstreicht, also die formale Ordnung kontra formloses Chaos, das kalte Metall gegen die Leichtigkeit des Raums. In den neueren Serien ist die organische Substanz des Eisens durch erdig-rostige Farbwirkung und bewusst geduldeten Unebenheiten gesteigert.

Und wieder spielt die Darstellung des einzelnen Segments im Verhältnis zur in sich gehaltenen Gruppe eine entscheidende Rolle. Gleich eines Signets wirkt es dynamisch, ob als Metapher einer widersprüchlichen Gemeinschaft oder eben als Bewegungskurve im hier aufgebauten Spannungsfeld, immer nach der Suche der Veränderbarkeit.

Aber mit jeder weiteren Arbeit entstehen neue Nuancen, wie sie sich eben in den jüngsten Serien Flores, Frutos, Hojas zeitgleich weiterentwickelt haben. Schon in der Gestaltung des Arbeitsprozesses lag eine ungewöhnliche Dimension begründet. Ungefähr auf Körpergröße bemessen, entstehen unterschiedlich lange Metallrohre von 21 Millimeter Durchmesser mit filigran geschmiedeten Steckverbindungen. Angelegt zunächst als ein konzipiertes Segment von mehreren Eisenstäben, hat Herta Seibt de Zinser nach fünf Variationen gestrebt. Die exakt axial drehbaren Bögen erlauben aber vielfach variable Kombinationen.

Das Werk reifte langsam heran, wonach ein Sprichwort von Machado lautet „se hace camino al andar“, der Weg entsteht im Gehen. In einsamer Übung wurde die Künstlerin durch nichts anderes gelenkt, als durch das tägliche Experimentieren mit dem spezifischen Material, mit Flamme und Kühlung, Widerspenstigkeit und Formbarkeit.

Auch in anderer Hinsicht ist die Arbeit verfeinert, wenn aufgrund der fragilen Form sie eine erstaunliche Kraft suggeriert und trotz ihrer instabilen Erscheinung eine Poesie der Unerreichbarkeit entfaltet. Dann beginnen sich Umrisse wie imaginäre Segel zu übertragen und aus dem Raumvolumen heraus vorzubilden. Im Herantasten an den Grund, im Besitzergreifen unsichtbarer Grenzen der Lufträume ist der Prozess der Veränderung stets von neuem zu erfahren.

Herta Seibt de Zinsers Transformaciones sind auch hintersinnige Gleichnisse auf unser Dasein und dabei sind sie so unprätentiös einfach und eindringlich wie mache Sätze von Christoph Ransmayr in der „letzten Welt“. Er hat Ovids Verwandlungsgeschichten von Göttern, Menschen, von Planeten, Tieren und Pflanzen eine gebührende Reverenz erwiesen. „Das nichts bleibt oder in ewiger Ordnung verharrt, sondern jedes Wesen – von Liebe und Sehnsucht getrieben – zu jeder Veränderung fähig ist.“

Phyllotaxis ist ein botanischer Begriff: ein Blatt wird durch äußere Reize verändert und die Formenmuster der Pflanzen verändern sich im Wachstum und im Wechsel der Jahreszeiten

Christoph Ransmayr, Die letzte Welt, Fischer Verlag 1988 Ovid, Metamorphosen, Fischer Verlag