Im Dialog mit der Natur
Herta Seibt de Zinser und Ferdinand Tosch
im Georg Scholz-Haus Waldkirch

Stefan Tolksdorf,
Eröffnungsrede Oktober 2013

Am Anfang war das Staunen – über die Schöpfungskraft und Vielfalt der Natur, am Anfang war: die natürliche Linie – die mit der kreativen Kraft der Gedanken und Gefühle korrespondiert, eine Linie, die Sichtbares aufgreift und Unsichtbares sichtbar macht. Die lebendige Linie, “Lebenslinie”, als Ausgangspunkt zweier Künstler(in), die sich der Bewegung des Wachstums im Vollzug “verschrieben haben” – Herta Seibt-de Zinser und Ferdinand Tosch. Sie lernten einander erst während der Vorbereitungen zu dieser Ausstellung kennen – und fanden die von anderen festgestellte Wesensähnlichkeit des Blicks bestätigt. Metamorphose, Wachstum und Transformation sind Schlüsselbegriffe für das Werk beider. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die organische Linie.

Ferdinand Tosch ist ein seit Jahrzehnten suchender und findender Originalgrafiker, der zu immer neuen halbabstrakten, bisweilen surreal anmutenden Figurationen findet. Er ist zugleich ein von der Montessori-Methode beseelter Kunstpädagoge, was seine Experimentierlust unbedingt befördert. Auf der Suche nach nichttoxischen Verfahren des Tiefdrucks ist er vor einem Jahrzehnt auf das Karporundium gestoßen, ein Siliciumcarbid, das gewöhnlich als Belag für Schmirgelpapier Verwendung findet.

Der Franko-Amerikaner Henri Götz hat den Stoff als druckgrafisches Gestaltungsmittel erst 1967 entdeckt. Das Verfahren ermöglicht, wie Sie in dieser Ausstellung sehen, faszinierende Möglichkeiten von Hell-Dunkel-Kontrasten und erdigen Tönen. Zusätzlich bearbeitet der Künstler seine Bilder mit Grafit, Kohle, Kreide, Schellack und Kaltnadel.Dabei lassen sich fünf Werkgruppen ausmachen, die allesamt von ausschnitthafter Bewegung gekennzeichnet sind und durchweg abstrakt anmuten:

1. Bilder, die von Dingen, etwa Werkzeugen und Artefakten ihren Ausgang nehmen
2. Bilder mit vegetabilem Ausgangspunkt
3. Surreal anmutende Landschaften
4. Blockhafte, flächenbetonte Bilder
5. Arbeiten, die sich der Inspiration durch das Material des Bildträgers verdanken.

Zu den letzteren zählen die aufgeklappten Milchtüten, deren Innenseiten Tosch als Druckplatte benutzt. Über der beinahe sakral anmutenden Staffelung der Falze geht scheinbar der Mond auf – in Wahrheit der Ausgießer der Milchtüte. Dieser Max Ernst-haften Experimentierlust verdankt Ferdinand Tosch zahlreiche verblüffende Bilder.Das betrifft auch die Graffitzeichnungen auf Transparentpapier, das ein deutlich schnelleres Arbeitstempo evoziert. Ausgehend von den häuslichen Dingen eines Hauses in der Toskana entstand eine große Serie von Zeichnungen, in der das Große und das Kleine maßstäblich gleich behandelt wird. In ihrer Ausschnitthaftigkeit und mit radikalen Bildschnitten werden die Dinge zusätzlich verfremdet und auf ihre strukturelle Erscheinung reduziert. “Hommage an Raffaelo” nennt Tosch eine Bildreihe mit Graphit, Kreide und Schellack auf braunem Papier, die beinahe topographisch anmutet. Motivischer Impuls war auf die auf den Treppen hingestreckte Figur des Kynikers Diogenes in Raffaels berühmter “Schule von Athen” im Vatikanpalast. Die Detail-Studien zu diesem epochalen Werk hatte Tosch im Mailänder Brera-Museum gesehen.

Der körperliche und kunsthistorische Aspekt ist in der Ausführung jedoch beinahe getilgt. Was bleibt, ist eine geradezu haptische Landschaft, der gleichsam plastische Schwung der Linie. Ihren Höhepunkt erreicht diese Verselbständigung der Linie vom motivischen Anlass in der panoramenhaften Großzeichnung im Obergeschoss. Hier lässt der Künstler seine grafischen Zügel schießen, und man erkennt, wie frei schöpferisch sich seine Linie sich dabei entwickelt. Sie wird zum Dickicht, zur Welle, zum metamorphen Gesicht, zum Horizont, zur Bergkontur und zum Unterholz – gleichsam eine écriture automatique, die den Betrachter zur freien Assoziation verführt. Eine gleichsam psychogrammatische Linie. Versteckt sich aber nicht auch im Liniengestrüpp ein Selbstportrait, oder mehr als nur eines? In jedem Fall steckt Tosch ganz darin: Ein Choreograph seiner inneren Bewegungen.

Und er weiß Gegensätze spannungsvoll auszureizen:
Das Schwebende und das Verwurzelte,
das Offene und das Geschlossene
Das Helle und das Dunkle,
das Leichte und das Schwere
zu Bildern von amorpher Vieldeutigkeit
Die Linie bleibt dabei sein Hauptgestaltungsmittel – und ihre Dynamik wirkt jeder tektonischen Erstarrung entgegen.
Toschs Bilder wirken stets gewachsen, nie gebaut.

Unverzichtbar für diese Lebendigkeit ist dabei der ständige Dialog mit der Natur. Auch Herta Seibt de Zinsers Rundeisenskulpturen entstehen in eben diesem Dialog. Weit ausgreifend, in konvulsorischen, tänzerischen Bögen folgen die ineinander gesteckten und gekonnt gebogenen dünnen Eisenrohre sowohl dem natürliche pflanzliche Wachstum, als auch einem künstlerischen Credo: die Poesie der Unerreichbarkeit. Damit zeigen diese in die dritte Dimension auswachsenden Bilder, die Sequenzen aus dem ewigen Wachstumsprozesses beschreiben und zugleich kraftvoll die Gegenwart des Raumes prägen, eine Verwandtschaft zur romantischen Figur der Arabeske. Denn sie zielen aufs Unendliche. Dem entspricht auch die Verwandlung der Schwere in Leichtigkeit und – vor allem die rhythmische Eleganz der Linie, die mit ästhetischer Entschiedenheit florale Grundformen – den Umriss eines Blattes oder Blütenkelchs nachvollzieht, und doch prinzipiell zu jeder Veränderung fähig ist.

Wie sehr diese gewundenen Strukturen auf exakter Naturbeobachtung beruhen, wie bereitwillig sich der abstrahierende Blick der Künstlerin auf gegebene Formen und Figurationen festlegen kann, zeigen, hier erstmals öffentlich ausgestellten Pflanzenstudien: Eine Dolde, eine blühende Anemone, eine Bananenstaude oder ein vertrockneter Tomatenstrunk – allesamt Ausdruck des Staunens über die unerschöpfliche Kreativität der Natur.
“Wachstum regt sich” noch im Kleinsten – Blätter, Blüten, Stengel und Fruchtstände, wie sie von einem frühen Expeditionsteilnehmer zum ersten Mal staunend und mit diagnostischer Akribie zu Papier gebracht.
Inspirationsquellen sicher, für ihr plastisches Werk, aber auch eine völlig autonome Werkgruppe, die mit sensiblem, präzisem Strich die Freude am Sichtbaren feiert – und immer bleibt genügend Raum auch für die Fantasie.

Müßig, die Frage, ob die Freude am Vegetabilen im Werk dieser Künstlerin sich der üppig wuchernden Flora ihrer südamerikanischen Heimat verdankt. Nein, hier wirkt kein Exotismus. Vielmehr die Kraft eines gestalterischen Sehens, das nach dem Undarstellbaren strebt, folglich notwendig ins abstrakte Terrain vorstößt, sich aber auf beinahe anrührende Weise auch im Konkreten zu bescheiden weiß. Ein Blick, der das betrachtende Subjekt nie offensiv ins Zentrum rückt sondern einbezieht, ja selbstverständlich in sich schließt. Das “Ich” als Medium der Transformation.
Dies trifft natürlich auch für Ferdinand Tosch zu.

Goethes Worte aus dem berühmten, seiner Frau zugeeigneten Gedicht “Metamorphose der Pflanzen” berühren, wie ich finde, das Werk beider, und sollen als Würdigung dessen, was sie verbindet,am Ende dieser versuchten Annäherung stehen: Und hier schließt die Natur den Ring der ewigen Kräfte; doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an, und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei… Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, auf ein heiliges Rätsel